Reisebericht Thule Winterexpedition

von Dr. Hans-Ueli Fuchs

Vorweg eine Kurzbeschreibung von Dr. Harald Siegrist

Ich bin vom 23.03.2014 bis 11.04.2014 mit Dr. Christian Adler und 7 Teilnehmern in Nordgrönland mit Schlittenhunden unterwegs gewesen. Das war ein einmaliges, sehr eindrucksvolles und intensives Erlebnis. Mit Christian zu reisen ist einmalig und lehrreich. Er hat mehrere Jahre in dieser Region mit den Inuits, deren Sprache er mächtig ist, als Jäger gelebt. Die Schilderungen seiner Erlebnisse der damaligen Zeit haben uns viel Wissenswertes über das harte und anspruchsvolle Leben in dieser abgeschiedenen Region vermittelt.

Jeder Teilnehmer sass auf einem Schlitten, der von etwa elf gutmütigen Grönlandhunden gezogen wurde. Das Gespann führte ein Inuit Jäger. Diese stets freundlichen und hilfsbereiten Männer begleiteten uns sicher durch das Eis. Übernachtet wurde in kleinen, engen Jägerhütten und in auf zusammengestellten Schlitten aufgebauten Zelten. Die von Christian auf einem Spirituskocher gekochten Mahlzeiten waren einfach, aber nahrhaft, abwechslungsreich und grosszügig. Wir hatten Glück. Das Wetter war schön, aber kalt. Weil man untätig auf dem Schlitten sass, spürte man die Kälte nach einiger Zeit, insbesondere an den Füssen. Die Eisverhältnisse begünstigten eine flotte Fahrt. Unsere Gruppe blieb von einem Sturm, der jederzeit auftreten kann, glücklicherweise verschont.

Wer die Arktis wirklich erleben will, muss im Norden Grönlands mit Schlittenhunden unterwegs gewesen sein. Man muss die Arktis gespürt und erlitten haben. Reisen auf einem Schiff , auch mit Zodiac Ausflügen, können dieses tiefe Erlebnis nicht bieten; es fehlt die arktische Wirklichkeit.

1. Diskobucht, Ilulissat bis Qaanaq
Montag, 06.04.
Der Flug nach Kopenhagen geht um 7.10 Uhr. Ich fliege mit der SWISS in einem Airbus 320. Ankunft in Kopenhagen um 9 Uhr. Ich treffe die Reisegruppe vor dem Schalter der Air Greenland bzw. im Bistro gleich daneben: Daniela, Ingrid und Wolfgang. Wer fehlt ist unser Reiseleiter Christian Adler. Seine Maschine konnte in München nicht rechtzeitig starten, zuerst wegen technischer Probleme, dann wegen Nebels. Er hat aber Daniela Anweisungen gegeben, was wir tun sollen, Handy sei dank.

Um 13 Uhr besteigen wir die Maschine der Air Greenland nach Kangerlussuaq, eine Boeing 757. Christian kommt ausser Atem als letzter gerade noch an Bord, aber sein ganzes Gepäck schafft es nicht mehr. Was ihm und uns einiges Kopfzerbrechen bereitet.
Über dem Atlantik liegt Nebel. Kurz sehen wir die Fjordlandschaft Südnorwegens. Zum Glück wird das Wetter über Grönland gut, sodass wir aufs Inlandeis sehen: rechts der Maschine unendliches Weiss, links das Küstengebirge, durchzogen von weiten Gletschern. Nach 4 Stunden Flug sind wir in Kangerlussuaq SFJ oder Söndre Strömfjord wie es auf Dänisch heisst. Ursprünglich eine amerikanische Airbase aus dem 2. Weltkrieg, Blue West 8 mit Codename. Mit einer Dash 7 geht bald darauf die Reise weiter nach Ilulissat. Diese Dash 7, Hochdecker mit 50 Sitzplätzen, sind die Arbeitspferde der Air Greenland, robust und zuverlässig, aber nicht mehr ganz jung.
Der Flugplatz von Ilulissat liegt etwas ausserhalb der Stadt. Im Hotelbus gelangen wir zum Hotel Hvide Falk und bekommen so einen ersten Eindruck der Siedlung an der Diskobucht. Das Hotel liegt direkt am Meer und von unserem Zimmer im 3. Stock haben wir eine grossartige Aussicht über die Diskobucht.

Stadtbummel. Ilulissat hat ca. 5000 Einwohner, zwei Supermärkte, eine stattliche Holzkirche, ein modernes Spital und viele Schlittenhunde. Auch der Speisesaal hat eine fantastische Aussicht. Ich esse Walfischsteak mit viel Zwiebeln und Kartoffeln. Die dazu gereichte Preiselbeerkonfitüre schmeckt wie das Steak vorzüglich und passt gut zum Fleisch, das unserem Hirsch ähnlich ist.
Da sitze ich jetzt also, noch keinen Tag von zuhause weg, vor einem Stück Walfleisch mit Aussicht auf Treibeis und Eisberge in der Abenddämmerung !

Dienstag, 07.04.
Den heutigen Tag verbringen wir in Ilulissat. Nach dem Frühstück ist eine kleine Wanderung nach Sermermiut angesagt und zu einem Aussichtspunkt, von dem aus wir auf den Icefjord sehen werden. Christian muss sich um den Verbleib seines Gepäckes kümmern. Der Himmel ist bedeckt und es ist ziemlich kalt. Ausserhalb der Stadt kommen wir an der Schlittenhunderegion vorbei. Die Hunde von Dutzenden von Gespannen liegen träge im Schnee. Als ein Grönländer sein Gespann für eine Probefahrt anschirrt, kommt Leben in die Hunde. Das ganze Tal ist von ihrem Gekläff und Geheul angefüllt.
Wir wandern zuerst auf der Strasse, dann querfeldein. Vorbei am alten Friedhof mit Hunderten weisser Kreuze waten wir durch knöcheltiefen Schnee. Dazwischen liegen heimtückische gefrorene Flächen. Schliesslich kommen wir auf die Anhöhe, von der aus wir über die Diskobucht und den Isfjord sehen. Riesige Eisberge treiben aus diesem heraus ins Treibeis der Bucht. Ein grossartiger Anblick. Es windet ziemlich und ist daher kalt. Die Sonne scheint milchig durch eine dünne Wolkendecke, das Licht zum Fotografieren ist daher nicht gerade ideal.
Am Nachmittag fahren wir mit einem kleinen leuchtend roten Fischkutter hinaus in die Diskobucht. Das Ziel ist der Isfjord. Bald bleiben wir aber im Treibeis stecken. Obwohl der Kutter versucht, die Eisschollen beiseite zu schieben oder zu brechen, gibt es kein Durchkommen. Nur von weitem sehen wir die gigantischen Kolosse von Eisbergen. Im Westen der Bucht ist das Treibeis ganz geschlossen. In der teilweise offenen Fahrrinne kommen nur grössere Trawler durch. Sie kehren vom Heilbutt- und Krabbenfang zurück nach Ilulissat. Dort gibt es die Fischfabrik der Royal Greenland, die die verarbeiteten Meeresfrüchte in alle Welt verschickt. Obwohl wir nicht sehr weit gekommen sind, war die Fahrt ins Treibeis interessant und zudem bei der Kälte im Fahrtwind ein Test für meine Kleidung.
Zum Abendessen gibts gebratenen Catfish an Zitronensauce. Gut, aber etwas fad. Dazu trinke ich Tuborg Spezialbier "Osterbräu". Wecken morgen früh um 6 Uhr. Der Weiterflug nach Qaanaaq soll um 8 Uhr starten. Leider ist Nebel angesagt. Allerdings steigt das Barometer. Aber diesen Widerspruch zwischen Barometerstand und tatsächlichem Wetter habe ich schon in Ostgrönland beobachtet. Auch dort stieg oder sank der Druck oft um einige Tage verschoben zum Wetterverlauf. Barometerstand heute 1023 hPa.
Mittwoch, 08.04.
Die Hauptsache heute: der Flug von Ilulissat nach Qaanaaq. Christian sagte uns, wir sollten wegen der Aussicht unbedingt rechts in Flugrichtung sitzen. Es sind nicht viele Passagiere in der Maschine und nach der Zwischenlandung in Upernavik ist es gerade noch eine Handvoll. Im vorderen Drittel der Kabine ist unter einem Gepäcknetz Fracht verstaut. In Ilulissat ist es noch bedeckt, aber bald haben wir die Wolkendecke durchstossen.
Anflug auf Qaanaaq: zuerst sehen wir Schlittenspuren, dann die Hüttchen der Eisfischer und dann überfliegen wir die farbigen Häuser der Siedlung. Der Flugplatz liegt etwas ausserhalb. Auf Piste und Abstellplatz liegt Schnee. Die Sonne scheint und grelles Weiss blendet uns wie wir aussteigen. Die rote Maschine und das blaue Flugplatzgebäude geben einen schönen Farbkontrast. Nur einmal in der Woche, am Mittwoch, ist hier Verkehr, wenn die Maschine aus dem Süden ankommt. Ein Helikopter mit laufendem Rotor nimmt zwei Passagiere für den Weiterflug in eine Aussensiedlung auf.
Unser Gepäck wird auf kleine Handwagen verladen, nur Christians Seesäcke fehlen. Er steht in leichter Hose und Pullover nur mit seinem Handgepäckköfferchen vor dem Flugplatzgebäude. Jetzt sind wir nach drei Tagen Reise endlich in Nordgrönland, in Hochstimmung und gespannt auf das Abenteuer, das hier auf uns wartet!

Abgeholt werden wir von Finn, einem ausgewanderten Dänen und alten Freund von Christian. Er fährt uns und unser Gepäck mit seinem Pickup in den Ort. Dort beziehen wir im Gästehaus, dem ehemaligen Altersheim Quartier. Das neue Altenheim steht gerade gegenüber und auch das gelb gestrichene Spital ist in unserer Nachbarschaft.

Das Gästehaus ist unbewirtet und gemütlich einfach. Nur ist leider der Ausguss eingefroren und auch an das "Trocken-WC", d.h. den Abfallsack unter der Klobrille, müssen wir uns erst gewöhnen. Aber Küche und Stube sind zweckmässig und gemütlich und von der Eingangsveranda sehen wir weit über Qaanaaq und die zugefrorene Inglefield Bredning. Im Südwesten liegt der Felsrücken von Herbert Island - die Distanz ist schwer zu schätzen, wir werden auf der ersten Tagesetappe sehen, dass es allein bis zur östlichen Spitze etwa 25 Km sind.

In der weiten weissen Fläche des Sunds sind riesge Eisberge im Eis festgefroren. Einige scheinen so gross wie Inseln. Vom Anblick dieser Szenerie kann ich all die Tage, die wir hier sind, nicht genug bekommen. Wie oft habe ich beim Anblick von Fotografien Fernweh nach diesem Land bekommen und jetzt, jetzt liegt es direkt vor mir, ich stehe mitten drin!

Am Nachmittag müssen wir im Supermarkt Lebensmittel einkaufen für die erste Etappe. Es herrscht Hochbetrieb in der "Butik", denn morgen Kardonnerstag beginnen die Osterfeiertage und der Laden ist dann vier Tage geschlossen. Also tätigen auch die Einwohner von Qaanaaq ihren Grosseinkauf.

Qaanaaq zählt etwa 600 Einwohner, der ganze Thulebezirk mit den Aussensiedlungen 800. Die Inuit der Thuleregion sind die letzten ursprünglichen Eskimos der Westküste. Deren Bewohner sind Grönländer also Mischlinge (Eskimos, Dänen und auch holländisches und norwegisches Blut). Auch die Bewohner der Ostküste sind noch mehrheitlich echte Eskimos. Übrigens ist die Bezeichnung Eskimo nicht abschätzig oder gar rassistisch.

Nach dem Einkaufen machen wir einen Bummel durch den Ort und aufs Meereis hinaus, wo mehrere Hundegespanne angekettet sind. Wir sind etwas vorsichtig, denn Finn berichtete, er habe vor einer Woche eine Bärin mit zwei Jungen beobachtet. Die Bären ziehen zur Zeit offenbar von Norden zu offenen Wasserflächen, sog. Polynias, in der Nähe von Savissivik, wo sie reichlich Robben finden.

Temperatur nachmittags -18°, abends -20°. Leider fällt das Barometer, für die nächsten Tage ist schlechtes Wetter angesagt.

Christian kocht ein gutes, schmackhaftes Abendessen: panierte Schnitzel, Kartoffelsalat und grüne Erbsen. Dazu trinken wir einen mehr oder weniger guten französischen Rotwein.
Die Lebensmittel kommen im August und September mit zwei Versorgungsschiffen nach Qaanaaq. Von allem hat es, solange es hat. Dieses Frühjahr ist der Käse bereits ausgegangen. Frisches Obst und Gemüse kommt als Luftfracht zweimal pro Monat via Thule Airbase.

Jetzt ist es nach 21 Uhr und die Sonne steht noch 3 Querfinger über dem Horizont. Erste Wolkenbänke ziehen auf.

Donnerstag, 9.4.
Aufstehen ca. um 7 Uhr. Über dem Fjord ist es diesig. Heute haben wir nur ein kleines Programm: um 10 Uhr in die Kirche, lesen, Ausrüstung vervollständigen, packen. Am Nachmittag besuchen wir Finns Hunde. In der Kirche - in Grönland ist offenbar der Kardonnerstag schon der erste Osterfeiertag mit Gottesdienst - verstehen wir zwar von der auf Grönländisch gehaltenen Liturgie und Predigt kein Wort.
Die Lieder aber sind gefühlvoll, fröhlich und dann auch wieder etwas melancholisch. Die Predigt hält eine einheimische Pastorin. 90 % der Grönländer sind evangelisch-lutherisch. Wie überall sind die Kirchenbänke hart. Aber was macht das schon, ich sitze schliesslich in Qaanaaq in der schmucken farbigen Kirche, wie sie im Siluabildband aus meiner Kindheit abgebildet ist. Auf der Fotografie aus den sechziger Jahren tragen allerdings die Kirchgänger noch traditionelle Kleidung: weisse Anoraks zu Eisbärenfellhosen und die Frauen hüfthohe Stiefel und mit farbigen Perlen geschmückte Anoraks. Heute tragen die Eskimos den globalisierten Mischmasch.
Christian macht da eine Ausnahme: er hat eine original Eisbärenfellhose aufgetrieben und dazu einen grauen Baumwollanorak mit Pelzbesatz. Etwas eng die Kluft, aber zweifellos expeditionstauglich. In seinem Fleecepullover wäre er nicht weit gekommen und seine Ausrüstung ist wer weiss wo, vielleicht in einem Mittelmeerbadeort, angekommen. Gegen Abend klart das Wetter auf - trotz fallendem Barometer (nur noch 1007 hPa). Die Temperatur schwankt zw. -12° am Morgen, -22° am Nachmittag und wieder -12° gegen Abend.

Zum Nachmittagskaffee kommen unsere Inuit zur Besprechung. Am Stubentisch planen sie die Route. Wir verstehen sowieso kein Wort und versammeln uns erwartungsvoll in der Küche. Christian stellt uns dann je unseren Guide vor und erklärt uns das Ergebnis der Planung: in der Nähe von Herbert Island wurden Walrosse gesichtet, also werden wir in diese Richtung aufbrechen.
Unsere Inuitführer:

- Naimangitsok, ein Enkel Pearys, fährt mit Christian
- Ilanguaq mit Wolfgang
- Angutseq mit Ingrid
- Ito mit Daniela
- Thomas mit mir
Heute habe ich zum ersten Mal Matak gegessen! Sozusagen als Vorspeise, eingekauft im Supermarkt. Matak ist die rohe Haut mit Speck von der Schwanzflosse des Narwals. Die etwa 2 cm dicke Haut wird in Streifen von der Flosse heruntergeschnitten. Den Streifen steckt man sich in den Mund und schneidet ein mundgerechtes Stück ab. Die Haut ist zäh und muss lange gekaut werden. Sie schmeckt süsslich, etwas langweilig und erinnert mich irgendwie an Kaninchen.