Franz Josef Land

Mit dem Eisbrecher zu Walrossen und Eisbären
von Michael Martin

Scheinbar mühelos bahnt sich der Eisbrecher Kapitan Dranitsyn den Weg durch das Packeis vor Franz-Josef-Land. Es ist 2 Uhr nachts, ich stehe auf dem höchsten Deck des 46 Meter hohen Kolosses und genieße die Strahlen der Mitternachtssonne. 140 Tage und Nächte geht die Sonne am 81. Breitengrad nicht unter.
Links und rechts ziehen die Küsten von Inseln vorbei, deren Namen Wiener Neustadt, La Ronciere oder Wilczek Land an die Entdeckungsgeschichte von Franz-Josef Land erinnern. Die erst 1873 von einer österreichisch-ungarischen Expedition unter Carl Weyprecht und Julius Payer entdeckte, nördlichste Inselgruppe der Erde hat die klassischen Züge einer polaren Kältewüste.
Die 191 Inseln sind karg und strahlen eine stille, erhabene Strenge aus. Vor der Appolonov-Insel lässt der russische Kapitän Anker setzen, mit vier Zodiak-Schlauchbooten gelangt ein Teil der Passagiere zu einer Walross-Kolonie. 40 Walrosse teilen sich eine winzige Eisscholle, ihre warmen Körper dampfen in der kalten Luft. Walrosse waren auf Franz-Josef-Land einst fast ausgerottet, aber durch die sechs Jahrzehnte währende Sperre des Archipels seit dem Jahr 1928 haben sich die Bestände erholt, heute leben wieder an die 2000 Walrosse auf Franz-Josef-Land. Ihre Hauer sind überdimensional entwickelte Eckzähne und dienen in erster Linie dazu, ihr Territorium oder ihren gesellschaftlichen Rang zu verteidigen.
Nächstes Ziel ist Champ Island, fast vollständig von Gletschern überzogen. Dort entdecken wir ein geologisches Phänomen. Oberhalb des Strandes liegen Steinkugeln, deren Durchmesser von wenigen Millimetern bis zu zwei Metern reicht. Der Geowissenschaftler und Expeditionsleiter Sepp Friedhuber erklärt uns ihre Entstehung. Ihr Ursprung liegt im Meer und ihre Ausgangssubstanz ist organisch. Verwesende Lebewesen wurden in weiche Sedimente eingebettet, um sie herum haben sich verschiedene Mineralien eingelagert, die bei gleichmäßiger Stoffzufuhr von allen Seiten zu mehr oder minder perfekten Kugeln verklebten. "Wir nennen das 'Konkretionen'", schließt Friedhuber seinen Exkurs in die Geheimnisse der Geomorphologie ab.
Nachmittags verlassen wir Champ Island und fahren weiter Richtung Süden. Kurz nachdem wir Newscomb Island passiert haben, bleibt der Eisbrecher im Packeis plötzlich stehen. Maschinenschaden? Ein Gang zum Bug bringt Aufklärung. 100 Meter vor dem Schiff steht ein Eisbär auf dem Eis. Er scheint das Schiff zu fixieren. Langsam schiebt sich der Eisbrecher näher an das größte und gefährlichste Landraubtier der Erde heran und bleibt dann in 50 Meter Entfernung stehen. Jetzt wird der männliche Eisbär selbst aktiv und trottet auf unser Schiff zu.

Erst unterhalb des Bugs bleibt er stehen, auch weitere Passagiere stehen nun neben mir und blicken herab. Gedanken über die Höhe und Stabilität der Bordwand drängen sich auf. Kein Wunder, der Abstand zu dem gewaltigen Tier beträgt keine drei Meter mehr. Der Bär ist neugierig, läuft die Bordwand auf und ab, zwischendrin trottet er hinauf aufs Eis und kehrt wieder zurück. Plötzlich richtet er sich vor dem Schiff auf und steht nun drei Meter hoch vor mir. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, stehen wir uns nun doch unmittelbar gegenüber.
Nach einer Schrecksekunde reiße ich die Kamera mit dem 200-Millimeter-Teleobjektiv hoch, mache ein Portrait, für ein Ganzkörperbild bräuchte ich ein Weitwinkel auf der Kamera! Nach scheinbar endlosen 20 Sekunden senkt der Bär seinen massigen Körper und steht wieder auf seinen vier buschigen Tatzen. Dann trottet er davon, um seine Jagd nach Robben fortzusetzen, denen er an ihren Atemlöchern auflauert. Begegnungen wie diese rechtfertigen alleine schon den ungeheuren Aufwand einer Reise nach Franz-Josef-Land. Nirgendwo auf der Erde lassen sich Polarbären besser im einsamen Packeis beobachten. Am Ende der Reise werden es zwölf Begegnungen mit Eisbären gewesen sein.
Wir liegen nachts im Packeis vor Anker, ein russischer Grillabend auf dem Vorderdeck mit gegrillten Lachs und Wodka dauert bis tief in Nacht und zieht noch weitere Bären an. Nach kurzem Schlaf weckt mich die Sonne, die in meine Kabine strahlt. Minuten später stehe ich mit meinen Kameras auf dem höchsten Deck und bin fasziniert von der strahlenden Welt aus Weiß und Blau.

Das Schiff schiebt sich bereits wieder durchs Eis, krachend zerbrechen die Eisplatten unter der Last des massigen Bugs und geben tiefblaues Wasser frei. Es ist schwer, die Augen vom diesem Schauspiel zu lösen, aber auch die Landschaft verdient meine volle Aufmerksamkeit. Wir fahren in den Negri-Kanal ein, eine natürliches Meeresenge zwischen der Hall- und McClintock-Insel.

Über den Gletschern hängt Nebel, im Wasser treiben kleinere und größere Eisberge. Ich muss unweigerlich an die Titanic denken und bin froh, dass unser Schiff nicht nur über Radar und Echolot, sondern auch über eine 45 Millimeter starke, doppelte Bugwand verfügt.

Um 7.30 Uhr erfolgt der Weckruf des Expeditionsleiter Sepp Friedhuber, dessen tiefe Stimme und oberösterreichischer Dialekt den Passagieren längst vertraut ist. Nach 14 Reisen ins Franz-Josef-Land kennt er die Inselgruppe wie kaum ein anderer. Unterstützt wird Friedhuber von Christoph Höbenreich, der mehr als sieben Monate auf Franz-Josef-Land verbracht hat. Unter anderem ist ihm eine Durchquerung auf Skiern im Jahr 2005 auf den Spuren der Entdecker gelungen. Erfahrung allein reicht aber nicht aus, um eine Reise hierher erfolgreich zu leiten. Wind, Meer und Eis müssen den Reisenden gewogen sein, denn sonst sind Anlandungen mit den Zodiak-Booten kaum möglich.
Der nächste Stopp ist am Kap Tegetthoff auf der Insel Hall geplant, dem landschaftlich markantesten Punkt von Franz-Josef-Land. Vor dem Kap stehen zwei Basalttürme exponiert am Strand. Während die letzten Vorbereitungen getroffen werden, beobachte ich das Wetter aufmerksam. Längst haben sich wieder Wolken über das Kap geschoben - im Sommer weist Franz-Josef-Land eine Bewölkungsrate von 90 Prozent auf. Aber die Wolkengrenze liegt nur wenige Kilometer entfernt, nördlich davon scheint weiter die Sonne.
Ich gehe zu Alexej Mironov, den russischen Veranstalter der Reise ins Eis und frage, ob ich den bordeigenen Helikopter chartern kann. Er bejaht und nennt einen Stundenpreis, den ich mir selbst gegenüber nur dadurch rechtfertigen kann, dass man nicht alle Tage über eine solche Gletscherwelt fliegen kann. Als die beiden Piloten mit ihren eindrucksvollen Tellermützen auch noch ihre Zustimmung zum Öffnen der Seitentüre während des Fluges geben, willige ich kurz entschlossen ein.

Minuten später sitze ich dick eingepackt und fest angeschnallt im Helikopter, der vom Achterdeck des Eisbrechers aufsteigt. Ich bitte den Piloten, Kurs auf die Gletscherkante an der Hall-Insel zu nehmen, die bereits in der Sonne liegt. Dort bietet sich ein fantastisches Schauspiel aus Eisbergen, offenem Meer, Packeis und Gletscher. Wir kreisen minutenlang. Dann entdecke ich auf dem Gletscher türkisfarbene Seen und dirigiere den Piloten dorthin. Ich bin im Fotorausch, belichte 30 Bilder pro Minute und bin froh, im Zeitalter der Digitalfotografie keine Filme mehr wechseln zu müssen.
Dann fliegen wir quer über den Gletscher Richtung Negri-Kanal. Aus 500 Meter Flughöhe habe ich endlich einen Überblick über die komplette Inselwelt. 85 Prozent der Landfläche sind noch vergletschert, wenn auch hier der Klimawandel zu einem dramatischen Rückgang der Gletscher führt.

Über den wenigen eisfreien Flächen der McClintock-Insel wabert Nebel, auf der anderen Seite des tiefblauen Negri-Kanals bricht der Gletscher ins Meer, im Salzwasser treiben Eisberge. Ich bekomme den Finger kaum mehr vom Auslöser und mache insgesamt mehr als 700 Fotos. Als wir nach einer Stunde wieder auf dem Eisbrecher landen, bin ich zwar ausgefroren und erschöpft, aber glücklich über die entstandenen Bilder.
Augenblicklich ist die Reise für mich damit mental zu Ende. Es bleiben zwar noch zwei Tage im Eis, bevor es durch die Barentssee nach Murmansk zurückgeht, aber gedanklich bin ich bereits auf der langen Heimreise in den bayerischen Sommer. Der wird für mich dieses Jahr nur ein paar Tage dauern - nächste Woche geht es nach Westgrönland.